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Böll-Stiftung ehrt Imelda Marrufo: „Angst ist eine Sprungschanze“
Anne-Klein-Frauenpreis 2014 geht an die mexikanische Frauenrechtlerin
Unsere Arbeit wäre nicht möglich ohne die Kraft der Frauen in unserem Land. Diese Kraft ist heute Realität in Mexiko. Wir werden nicht zulassen, dass nur so getan wird, als würde etwas unternommen. (Imelda Marrufo Nava)
Mexiko war offizieller Partner der Internationalen Tourismusbörse ITB, die Anfang März in Berlin stattfand. In der ganzen Stadt begegnen einem seitdem verführerische Plakate mit märchenhaften Bildern: Ruinen alter Maya-Bauwerke, azurblaues Wasser, tiefgrüne Landschaften. Zur gleichen Zeit ist Imelda Marrufo Nava zu Gast in Berlin. Die mexikanische Juristin wird hier für ihren jahrelangen Kampf für die Frauenrechte in ihrem Land mit dem Anne-Klein-Frauenpreis ausgezeichnet. Sie setzt sich für die strafrechtliche Verfolgung von Tätern ein, fordert vom Staat endlich langfristige Maßnahmen, den Opfern der andauernden Gewalt zu helfen – und erzählt von einem anderen Mexiko, einem Mexiko, in dem jeden Tag durchschnittlich drei Frauen ermordet werden.
Marrufo Nava ist dritte Preisträgerin
Den mit 10.000 Euro dotierten Preis, der von der Berliner Senatorin und Feministin Anne Klein gestiftet wurde, vergibt die Böll-Stiftung 2014 bereits zum dritten Mal. Es sind noch mehr Gäste gekommen als im vergangenen Jahr, als die Menschenrechtsaktivistin Lepa Mlađenović (phenomenelle berichtete) geehrt wurde. Der Festsaal im oberen Stockwerk der Stiftung platzt aus allen Nähten: Selbst im Foyer sehen sich Menschen die Feier an, die auf Bildschirme übertragen wird – und nach Mexiko selbst, wo Imelda Marrufos Mitstreiterinnen sie per Livestream verfolgen. Unter den Gästen ist auch die erste Preisträgerin, Nivedita Prasad. Beide ausgezeichneten Frauen teilen die Erfahrung, dass der Preis „ganz im Sinne Anne Kleins ermutigt, öffentliche und politische Anerkennung schafft und Schutz für mutige Frauenrechtsaktivistinnen bietet“, wie die Vorsitzende der Jury, Barbara Unmüßig, die Zielsetzung der Auszeichnung beschreibt.
Oft Taten mit sexuellem Hintergrund
Schutz ist für Imelda Marrufo besonders wichtig: Die 38-Jährige lebt und arbeitet im nord-mexikanischen Ciudad Juárez, einer Stadt, in der immer wieder Frauen ermordet werden „um ihres Frauseins willen“, so Unmüßig. „Feminicidios“ werden diese Verbrechen im Spanischen genannt: Der Begriff schließt auch den oft sexuellen Hintergrund der Taten ein, ebenso wie die Straflosigkeit, mit der der Staat den Tätern ermöglicht, unbehelligt weiter zu vergewaltigen, zu verstümmeln, zu töten. Die verschleppten Frauen werden als Drogenkuriere missbraucht, zur Prostitution gezwungen, misshandelt und, wenn sie für ihre Entführer keinen Wert mehr haben, weggeworfen wie Müll. Imelda Marrufo gründete 2001 gemeinsam mit anderen mutigen Bürgerinnen den Red Mesa de Mujeres (Runder Tisch der Frauen von Juárez), um der Gewalt und der Sprachlosigkeit von Opfern und Justiz etwas entgegenzusetzen.
Marrufo, die gelöst und resolut wirkt, hat ihr ganzes Erwachsenenleben mit dem Kampf gegen menschenverachtende Brutalität verbracht, bereits als Jura-Studentin Gräueltaten gesehen, täglich mit verzweifelten Familien zu tun. Wie bewahrt sie sich ihre Heiterkeit? Gegenüber phenomenelle erklärt sie:
Es ist auch eine zufriedenstellende Arbeit, mit anderen, sehr motivierten Frauen zu arbeiten, die sehr viel Stärke beweisen. Unsere Arbeit lohnt sich. Sie ist nicht nur Tragödie und Schmerz, sondern auch Hoffnung. Außerdem geben wir uns gegenseitig Kraft.
Mexikanische Frauen werden aktiv
Ingrid Spiller, Leiterin des Lateinamerika-Referates bei der Heinrich-Böll-Stiftung, erzählt die Geschichte von Lupita Arzate Meléndez, deren Sohn Israel festgenommen und unter Folter zu einem falschen Geständnis gezwungen wurde – von Soldaten, die nach einem Massaker an mehreren Jugendlichen einen schnellen Fahndungserfolg vorweisen wollten. Gemeinsam mit Mesa des Mujeres wehrte sich Israel Meléndez‘ Mutter gegen die Vorverurteilung und Misshandlung ihres Sohnes durch die Behörden. Ihre Gegner nutzten dieses Engagement, um die Frauen zu diskreditieren. „Ihnen wurde vorgeworfen, auf Seiten von Mördern zu stehen“, erzählt Ingrid Spiller. Die Frauen wurden aber erst recht aktiv: Der Fall ging schließlich an den Obersten Gerichtshof des Landes. Imelda Marrufo weiter:
Endlich wurden Fragen gestellt, aufgezeigt, dass Politik und Behörden einen falschen Kurs verfolgten. Trotz der Tragödie, die sie erlebt hat, ist Lupita optimistisch in ihrer Arbeit, ihrem Auftreten gegenüber den Behörden. Solche Beispiele, die auch andere motivieren, freuen mich: Frauen, die daran glauben, was sie leisten können.
Gewalt gegen Frauen speist sich aus Machismo
Es gibt kein klares Täterprofil, auch das macht die Verfolgung der Mörder schwierig. Sie kommen aus dem engsten Umkreis der Frauen, sind öffentlich Bedienstete oder Angehörige des organisierten Verbrechens. Gewalt gegen Frauen ist außerdem so alltäglich, dass sie vielfach hingenommen und nicht hinterfragt wird. Die Toten des Drogenkrieges, der seit Jahren im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko tobt, stehen zudem in der internationalen Berichterstattung im Vordergrund. „Gewalt gegen Frauen ist ein gesellschaftliches, strukturelles Problem, das mit dem Machismo zu tun hat“, erklärt Ingrid Spiller.
Laut einer Studie des nationalen Instituts für Statistik und Geographie Mexikos (INEGI) wurden 2012 in Mexiko 105.600 Menschen entführt – jedoch nur 1.317 Fälle der Polizei gemeldet. Zwischen 2000 und 2009 wurden über 12.000 Frauen ermordet. In jedem dritten Haushalt lebt jemand, der Opfer eines Verbrechens wurde. Das Vertrauen der Bürger in Polizei und Justiz ist gering. Mesa de Mujeres richteten nicht nur die Aufmerksamkeit von Politik und Justiz auf die Gewalt gegen Frauen, sie erreichten, dass die Morde an acht Frauen vor den Interamerikanischen Gerichtshof gebracht wurden und der mexikanische Staat in drei Fällen schuldig gesprochen wurde, die Sicherheit und Freiheit der Frauen nicht garantiert zu haben.
Laudatio für eine Heldin
„Imelda ist, was man eine Heldin nennen kann, darf und muss“, eröffnet Claudia Roth ihre Laudatio. Die Bundestagsvizepräsidentin erinnert an die jüngsten Studienergebnisse der Europäischen Agentur für Grundrechte, nach denen in Europa jede dritte Frau Opfer von Gewalt geworden ist. „Die Situation in der Heimat von Imelda Marrufo ist jedoch von einer grausamen Einzigartigkeit.“
„Der Preis erkennt auch an, dass wir sehr große Risiken auf uns nehmen“, so Marrufo. Wie geht sie mit der ständigen Bedrohung um?
In den kritischsten Momenten, im Jahr 2010, als über 3.000 Frauen, Männer und Kinder ermordet wurden, demonstrierten wir gemeinsam mit Menschenrechts- und religiösen Gruppen im gefährlichsten Teil des Stadtzentrums. Wir wollten uns nicht einschließen. Die Angst trug dazu bei, dass wir Stellung beziehen mussten. Sie war wie eine Sprungschanze: Wir wussten, wir müssen sie überwinden.
Demnächst möchte sie eine Schule aufbauen, um besonders Mädchen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie ihre Situation verbessern können.
Ich arbeite seit zwanzig Jahren in diesem Bereich. In einer so langen Zeit lernt man, Schlussfolgerungen aus der täglichen Arbeit zu ziehen. Wie kann man das Stadtbild verändern? Dazu sind Räume wichtig, dauerhafte Bildungsangebote, besonders für Mädchen, sodass sie ihre Situation, ihre Ideen diskutieren können. Was wir bisher geleistet haben, reicht nicht, wir wollen weitergehen. Ich möchte weitergeben, was ich gelernt habe.
Und Laudatorin Claudia Roth fordert:
Dieses wunderbare Land und seine Menschen hätten es verdient, dass sich die internationale Gemeinschaft mehr und ernsthafter Gedanken darüber macht, wie man dem weltweiten Problem des Drogenhandels und der Armutsmigration begegnen kann. Imelda Marrufo und die Frauen des Mesa de Mujeres sind es, die Mexiko wieder zu einem auch für Frauen lebenswerten Ort machen und damit zu dem wunderbaren Paradies, das uns gerade in Berlin präsentiert wird.
Fotos: boellstiftung © www.stephan-roehl.de
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Weitere Informationen und Links
- Frauenmorde in Mexiko: Der Kampf gegen eine Kultur des Schweigens
- Geschlechtergerechtigkeit und Frauenrechte in Zentralamerika“, Studie im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung von Dr. Birte Rodenberg (Januar 2014). E-Paper abrufbar unter www.boell.de
- Feminicide: A Global Phenomenon. From Madrid to Santiago“, herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung Brüssel (April 2010). Die Publikation kann bestellt werden bei: Heinrich-Böll-Stiftung European Union, Rue d’Arlon 15, 1050 Brussels, Belgium und steht zum Download bereit unter www.eu.boell.org
Filme zum Thema
Das Paradies der Mörder (Originaltitel: El Traspatio) – Mexiko 2009, mit Ana de la Reguera. Die engagierte Polizistin Blanca Bravo soll in Juárez die zögerlichen Ermittlungen, die sich mit der Mordserie an jungen Arbeiterinnen befassen, vorantreiben. Der Film stellt das Klima in einer Stadt dar, in der Gewalt gegen Frauen Alltag ist.
Bordertown – USA 2006, mit Antonio Banderas und Jennifer Lopez. Journalistin aus Chicago geht Mordserie an Arbeiterinnen in US-Firmen im Grenzgebiet zwischen Juárez und El Paso nach. Jennifer Lopez wurde aufgrund dieses Films während der Berlinale 2007 von Amnesty International mit dem Artists for Amnesty-Preis ausgezeichnet.
Mehr zu Katrin Heienbrock
Info Anne Klein
Frauen haben eine andere Vorstellung von Politik und eine andere Qualität von menschlichen Beziehungen, die sich auch in der Form der politischen Auseinandersetzung durchsetzen und zeigen wird.
(Anne Klein, 1989)
Anne Klein (1950 – 2011) war Juristin und die erste feministische Frauensenatorin in Berlin. Ihren Amtseid legte sie mit den Worten „So wahr mir Göttin helfe“ ab. Zu ihren Ehren vergibt die Heinrich-Böll-Stiftung den mit 10.000 € dotierten Anne-Klein-Frauenpreis. Die Auszeichnung wurde erstmals 2012 verliehen: an die indische Menschenrechtsaktivistin Dr. Nivedita Prasad.