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Buchrezi: Was ist Homosexualität?

Forschungsgeschichte, gesellschaftliche Entwicklungen und Perspektiven.

Buch Cover HomosexualitaetAuf weit über 500 Seiten geht’s in diesem neuen wissenschaftlichen Standardwerk um das Wesen und die Entwicklung der Homosexualität und den Blick auf die Homosexuellen bis zum heutigen Tage. Gleich nach den einleitenden Worten der Herausgeber_innen beginnt die Reise durch eine lange Begriffsgeschichte von Päderastie und Tribadie über Effeminierung und Maskulinisierung , Freundschaft (sic!), Inversion, Hermaphroditismus, Homosexualität, (homo)sexuelle Orientierung, (Homo-) Sexualität als Identität sowie Bisexualität bis zu Queer. Und gleich darauf schließt sich die Frage an, „was war und ist ‚Homosexualitätsforschung?“ und mit welchen Begriffen operiert sie? Homosexualitätsforschung klingt seltsam distanziert, Lesben- und Schwulenforschung haben sich als Begriffe nicht etablieren können, am ehesten ist auch in Deutschland von Gay and Lesbian Studies oder von Queer Studies die Rede.

Vollständig wird die Betrachtung des Themenfeldes aber erst durch die oft übergangene Frage „Was ist Heterosexualität?“, um die der dritte Grundsatzartikel kreist. Erst die Infragestellung der Normalität des Heterosexuellen ermöglicht eine nicht abwertende und Homosexualität nicht zu etwas Anderem, Abweichendem machende Perspektive und eine oft noch nachzuholende Auseinandersetzung mit dem vermeintlich Normalen.

Trennlinie zwischen homo- und heterosexuell?

Gert Hekma erläutert die Normalisierung der Homosexualität in der Nachkriegszeit u.a. durch die Kinsey-Studie, die das Bild sowohl diversifizierte als auch auf die große Zahl „Betroffener“ hinwies. Thomas K. Kugler fragt anschließend, ob unser Homosexualitätsbegriff eurozentrisch ist, ob homosexuelle Lebensstile notwendigerweise einer Identität bedürfen, ob nicht andere Trennlinien, wie die zwischen öffentlich und privat, in anderen Ländern eine größere Bedeutung hatten oder haben als die Trennlinie zwischen homo- und heterosexuell. Er arbeitet heraus, dass der Islam im Gegensatz zum Christentum nicht mit zölibatären und lustfeindlichen Vorstellungen verbunden war und Homoerotik selbstverständlich in der Geschichtschreibung und höheren Literatur islamischer Gesellschaften vorkam.

Von Trans*, Gender, Queer und Feminist Studies

Katie Sutton beschreibt, wie aus „sexueller Inversion“ nach und nach ein Konzept von Transgender und Transsexualität wurde. Volker Woltersdorff erläutert das Widerständige und sich den Kategorien widersetzende des Queer-Ansatzes und erläutert die damit verbundene Kritik an Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die durch sexuelle und geschlechtliche Ordnungen begründet und gestützt werden. Er erwartet auch von Homosexuellen, sich mit Ihrer Zissexualität auseinanderzusetzen und ihre eigenen Privilegien zu reflektieren. „Queer“ hat sich von einem Schimpfwort für alle, die nicht in die traditionellen Moralvorstellungen der „moral majority“ passen, zu einer interdisziplinär und intersektional ausgerichteten provokant-kämpferischen Positionierung entwickelt, die über Identitätspolitik hinausgeht. Dabei hat es eine Verschiebung von einem ironischen zu einem ernsthaften Ton gegeben und werden nicht mehr nur explizit sexuelle Themen behandelt. Offen bleibt die Frage, ob die „Verqueerungspotenziale“ nun erschöpft sind und die Dynamik zu einem Ende kommt.

Kirsten Leng erläutert Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Gender, Feminist und Queer Studies. Laurie Maerhofer zeigt auf, wie stark kulturelle Bewertungen von Homosexualität den Blick auf außereuropäische Kulturen bestimmt: Von alten Bildern aus der Kolonialzeit über „Wilde“ oder „Primitive“, die ihre Sexualität nicht kontrollieren können, über eine konstruierte „rassische“ Minderwertigkeit von außereuropäischen Völkern ist Homosexualität zunächst Ausdruck fehlender kultureller Entwicklung, wird dann geradezu zum vermeintlichen Merkmal für Über-Zivilisation in der bürgerlichen Gesellschaft (Dekadenz) und ist schließlich heute eine der Grenzlinien einer vermeintlich toleranten europäischen Gesellschaft gegenüber dem Islam, in dem die Homophobie als Projektion gleichsam angesiedelt wird.

Veränderungen durch die AIDS-Krise

Lukas Engelmann beschreibt die einschneidenden Veränderungen für Schwule und den Blick auf männliche Homosexualität durch Aids. Dabei behandelt er die Isolation und Markierung HIV-Positiver nach der Entdeckung des Virus und die darauf folgende Angst und Wut ebenso wie jüngere Fragen wie Barebacking oder Präexpositionsprophylaxe, die durch medizinische Fortschritte der letzten Jahre stärker ins Blickfeld geraten sind.

Homosexualiät im Spiegel der Wissenschaften

Es folgt dann ein Teil, in dem das Verhältnis zwischen Homosexualität und verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen bearbeitet wird. So wird Homosexualität und der Blick auf Schwule und Lesben aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, der Philosophie, der Naturwissenschaften, der Psychologie und Psychoanalyse, der Soziologie, der Kunstgeschichte, der Musikwissenschaft, der Ethnographie, der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Arbeit und Wirtschaft und schließlich der Bildungswissenschaften vorgestellt.

Die prägende Rolle der Kirche in den Naturwissenschaften

Heinz J. Voss, frisch ernannter Professor an der Hochschule Merseburg, erläutert etwa die prägende Rolle der christlichen Kirche für die zweigeschlechtliche Gesellschaftsordnung, die über Jahrhundert und bis heute die naturwissenschaftliche Perspektive auf Fragen von Geschlecht und sexueller Orientierung bestimmt hat. Er arbeitet die Verwobenheit der naturwissenschaftlichen Forschung mit Religion, Politik, Ideologie und den Herrschenden heraus. Für die Jetztzeit sieht er zwar eine Betonung der sozialen Konstruktion von Geschlecht und Sexualität, verweist aber auch auf die Argumentation der biologischen Bedingtheit von Homosexualität, etwa wenn Homosexualität zur Abwehr strafrechtlicher Verfolgung (beispielsweise in einigen Bundesstaaten der USA) als etwas Natürliches dargestellt wird.

Psychoanalytische und soziologische Wandlungen

Udo Rauchfleisch zeigt auf, wie spät (wenn überhaupt schon) die Psychoanalyse ihr traditionell negatives Verhältnis zu Homosexualität verändert hat. Er zeigt immer noch erstaunliche Ausschlüsse von psychoanalytischen Ausbildungsinstituten auf. Thorsten Benkel verdeutlicht aus soziologischer Perspektive, wie die „gesellschaftlichen Inklusionserfolge“ der Lesben und Schwulen dazu geführt haben, dass Forderungen nach einer umfassenden Gesellschaftsreform nur noch selten im Mittelpunkt der politischen Agenda stehen, sondern längst Homosexuelle in allen möglichen weltanschaulichen Richtungen öffentlich wahrnehmbar sind.

Medien nach 1945 und ein positives Fazit

Der abschließende Artikel „Schwule Medien nach 1945“ beschränkt sich leider auf den männlichen Teil der Geschichte. Insgesamt kommen Lesben und lesbische Perspektiven aber – zumindest unter Berücksichtigung ihrer historisch geringeren Sichtbarkeit – fast gleichwertig vor und werden häufig Bezüge zur Diskussion um Gender und Feminismus hergestellt. Allenfalls gestreift werden beispielsweise Themen wie die Entwicklung zur eingetragenen Lebenspartnerschaft oder zur Ehe für Alle, die derzeit politisch sehr aktuelle Situation von Schwulen und Lesben in Osteuropa, der Kampf um Bürgerrechte und das Thema „Homosexualität und Film“. Dennoch hätte das Buch fast den Titel „Lexikon der Homosexualität“ verdient, behandelt es doch aus vielseitiger Perspektive den Blick verschiedener Disziplinen und wissenschaftlicher Schulen, die teilweise auch von Schwulen und Lesben selbst entwickelt wurden, auf das „sich ständig in Umkonstruktion“ (Rüdiger Lautmann) befindende Phänomen der Homosexualität(en).

Ansgar Drücker

Florian Mildenberger, Jennifer Evans, Rüdiger Lautmann und Jakob Pastötter (Hg.):
Was ist Homosexualität? Forschungsgeschichte, gesellschaftliche Entwicklungen und Perspektiven.
Männerschwarm Verlag 2014 

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