kulturelle
Buchrezi: „Die Mauer muss weg“ von Robert Ziegler
Das Buch beginnt mit einem interessanten Perspektivwechsel: In einer kurzen Episode wird angenommen, dass die Heterosexuellen die Minderheit sind und ihr Verhalten und ihre Lebensweise als nicht normal gelten – ein interessantes Gedankenspiel. Doch danach geht es vor allem sachlich und soziologisch weiter. Der Autor liefert einen Debattenbeitrag zur Ehe für alle sowie ein Plädoyer für ein breites Engagement gegen Homo- und Transphobie. Zunächst nimmt er ausführlich den Entwurf für den umstrittenen Bildungsplan Baden-Württemberg unter die Lupe, der Anfang 2016 kurz nach der Landtagswahl vom noch amtierenden SPD-Kultusminister in Kraft gesetzt wurde und vorher über Jahre die Gemüter im Ländle und darüber hinaus erregt hatte. Stück für Stück widerlegt Ziegler die Argumente der Gegner des Bildungsplans, die mit verschiedenen Anläufen für eine „Demo für alle“ nach französischem Vorbild eine durchaus beachtliche Mobilisierung weit in bürgerliche Kreise hinein erreichten und neben Rechtspopulist_innen somit auch konservative Katholiken, Evangelikale und CDU-Wähler_innen auf die Straße brachten. Aktuelle Entwicklungen des parteipolitischen Rechtspopulismus in der AfD in diesem Kontext haben leider nicht mehr im gebotenen Umfang den Weg in das Ende 2015 erschienene Buch gefunden, obwohl sie sich beim Erscheinen längst abzeichneten.
Das umfangreiche Grundsatzkapitel endet mit der Präsentation von Ansätzen „zu einvernehmlicher Vielfalt im Bildungssystem“. Der Autor versteht die Überwindung von Homo- und Transphobie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe hin zu Inklusion im weiteren Sinne des Begriffes und fordert dafür nicht nur Toleranz, sondern Akzeptanz von Nichtheterosexualität von allen gesellschaftlichen Institutionen ein. Aus menschenrechtlicher Perspektive beruft er sich dabei auf die Yogyakarta-Prinzipien.
Ausführlich zeichnet er nach, wie Frankreich und die USA gegen Widerstände den Weg der Öffnung der Ehe gegangen sind, während Deutschland trotz erheblicher rechtlicher Fortschritte diesen längst überfälligen Weg noch immer nicht gegangen ist. Die Öffnung der Ehe und die Ermöglichung von Adoptionen durch homosexuelle Paare sind jedoch sicherlich nicht das Ende des Kampfes gegen Homo- und Transphobie – diese Erkenntnis könnte etwas deutlicher durchscheinen. Die Konzentration der rechtlichen Auseinandersetzung auf diese beiden letzten großen juristischen Ungleichheiten ist zwar naheliegend, sie machen aber nicht den Kern der gesellschaftlich wirksamen Homo- und Transphobie aus, wie die Auseinandersetzung gerade um den Bildungsplan in Baden-Württemberg eindrucksvoll belegt. Diesen Aspekt greift der Autor allerdings im abschließenden Kapitel „Zukunftsperspektive: Auch die Eheöffnung löst nicht alle Probleme“ dann doch noch auf. Hier geht er auch auf das nach Erscheinen des Buches noch aktueller gewordene Herausforderung des Asylrechts durch eine hohe Zahl von LGBT-Geflüchteten ein.
Zuvor allerdings folgt noch ein etwas holzschnittartiges Drehbuch für eine Öffnung der Ehe und des Adoptionsrechts noch in der laufenden Legislaturperiode, das – wie auch einige weitere Passagen im Buch – zwar nachvollziehbar und begründet dargestellt wird, aber dennoch die politischen Realitäten nicht ausreichend einbezieht. Überhaupt kommen die politischen Parteien und ihre Positionierungen dann doch nur am Rande vor, am ehesten noch CDU und Grüne, die antagonistisch agierenden Hauptgegner in der Homofrage. Die SPD kommt kaum, Linke und FDP kommen gar nicht vor. Das in manchen Gedankengängen etwas technokratisch wirkende Buch hat seine Stärken in der analytischen Durchdringung der Thematik. Dass der sehr junge Autor gelegentlich mit eher altbackenen Begriffen wie behende oder töricht agiert, stört den Lesegenuss nicht wirklich.
Ansgar Drücker
Robert Ziegler: „Die Mauer muss weg! – Mündigkeit im Umgang mit sexueller Vielfalt“
GRIN Verlag 2015