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phenomenelle des Wochenendes: Marthe Richard
Marthe Richard (15.4.1889–9.2.1982)
Am 13. April 1946 verabschiedet die französische Nationalversammlung das Gesetz, das bis heute ihren Namen trägt La Loi Marthe Richard. Sein Hauptziel: Das Schließen aller Bordelle im Land. Das Anliegen: Etwas gegen die organisierte, meist brutale, Prostitution zu tun. Auch Zuhälterei wird verboten. Das nationale Register, in dem alle Prostitutierten aufgeführt waren, abgeschafft. Die Prostitution an sich bleibt aber legal. Richard, zu dieser Zeit Pariser Stadtverordnete und Nationalikone, wurde wohl von konservativen politischen Kräften mehr oder weniger benutzt, damit das Gesetz durchkam. Wenige Jahre später schon äußert sich Richard selbst so. Sie setzt sich dafür ein, die Häuser wieder zu eröffnen, wenn sicher sei, dass die Frauen nicht als Sklavinnen gehalten würden. Mit dem Gesetz habe sich sich geirrt:
Mein ganzes Leben lang habe ich nicht gegen die Prostitution gekämpft, sondern dafür, dass die Frauen frei sind.
(Quelle: WDR1 – Stichtag vom 13.4.2011)
Das Leben der Marthe Richard liest sich wie ein spannender Roman, auch wenn viele Details bis heute im Dunkeln bleiben. Ungewöhnlich und so gar nicht der traditionellen Frauenrolle entsprechend, umschreibt es wohl am besten. Sie stammt aus eher armen Verhältnissen, beginnt mit 14 Jahren eine Lehre als Hosenschneiderin. Vermutlich um sich Geld nebenher zu verdienen, prostituiert sie sich in der nahegelegenen Garnison. Mit 16 Jahren wird sie ins Prostituiertenregister eingetragen. Sie zieht nach Paris und lernt bald den vermögenden Fischhändler Henri Richer kennen. Sie wird seine Geliebte, er fördert sie und führt sie in die beste Gesellschaft ein.
Richard entdeckt ihre Leidenschaft fürs Fliegen. Richer finanziert ihr die Flugausbildung, 1913 erhält sie als erste Frau in Frankreich den Pilotenschein. Die Presse gibt ihr den Namen Die Lerche. Mit anderen Fliegerinnen versucht sie während des I. Weltkriegs in die Fliegerstaffel des Militärs aufgenommen zu werden. Erfolglos. Dafür rekrutiert sie ein Nachrichtenoffizier als Spionin. Vorgesehen ist ihr Einsatz im „horizontalen Bereich“, sie soll dem Feind durch Sex Geheimnisse entlocken. Letztlich bleibt bislang im Verborgenen, was sie als Spionin tatsächlich bewirkt. Gesichert ist nur, dass sie einem deutschen Offizier in Spanien einige Geheiminformationen über U-Boote entlockt.
Nach dem Krieg heiratet sie einen Engländer, wird britische Staatsbürgerin. Ihr Ruhm mehrt sich, vor allem nachdem ihr Spion-Anwerber seine Erinnerungen, versetzt mit vielen erfundenen Details, veröffentlicht. Den 2. Band widmet er ihr. Sie fühlt sich zwar falsch dargestellt, anstatt zu klagen, verlangt sie aber an den Gewinnen beteilgt zu werden. Und schreibt selbst ein Buch. Sie wird zur Ikone, 1937 erscheint ihr Story sogar als Film. Auch ihre Rolle in der Résistance bleibt umstritten. Doch Richard steigt zur Kriegsheldin auf.
Erst mit Einführung des Marthe-Richard-Gesetzes beginnen Zeitungen, ihre Rolle und ihre Vergangenheit zu hinterfragen. Dabei muss den Leser_innen schon in den 30er Jahren klar gewesen sein, dass keines der Bücher eine auf Fakten basierende autobiografische Beschreibung darstellen sollte. Richard bleibt auch nicht lange Stadtverordnete, als englische Staatsbürgerin hätte sie gar nicht gewählt werden dürfen. Sie stirbt 1982 – berühmt, aber umstritten –, ihre Urne befindet sich auf dem Prominentenfriedhof Père Lachaise in Paris.
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