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Die Ausstellung Homosexualität_en in Berlin
150 Jahre Geschichte, Politik und Kultur in ungewohnten Formaten
Auf insgesamt 1.600 qm zeigt eine bisher einmalige Zusammenstellung gleichgeschlechtliche Sexualität und non-konforme Geschlechtsidentitäten – aufgeteilt auf das Deutsche Historische Museum und das Schwule Museum* in Berlin. Rund 60.000 Besucher haben sich die Ausstellung bereits angesehen und noch bis 1.12.2015 habt ihr die Möglichkeit dazu.
Die Ausstellung „Homosexualität_en“ zu beschreiben ist jedoch unerwartet schwierig: Jeder Raum nutzt andere und teils gänzlich neue Aufmerksamkeitsmodelle. Vor allem gelang es den Kuratoren_innen Birgit Bosold, Detlef Weitz und Dorothe Brill samt Team, eine sehr emotionale Ausstellung mit vielen Themen und Punkten zu schaffen, die die Besucher_innen nicht nur als solche sieht, sondern als involvierte Menschen.
Die Gesellschaft verhandelt Homosexualität als Begehren von Personen und Geschlechtern
Schon das Plakat, das die Künstler_in Heather Cassils nach 23 Wochen Kraftraining zeigt (sie lässt sich grundsätzlich weder mit „sie“ noch „er“ bezeichnen), sorgte im Vorfeld für Diskussionen. Und das war gewollt – denn wo stand die Gesellschaft vor 150 Jahren und wo steht sie heute. Eine Gesellschaft, die Personen die Identifikation mit männlich und weiblich aufzwingt, und die Identifikation „ich bin ein_e Homosexuelle_r „statt „ich begehe ich einen homosexuellen Akt“ vorzeichnet? Alle Fragen, die für die Ausstellung zentral sind und denen wir in jedem der Räume begegnen, scheinen hier vereint.
Auch wenn die öffentliche Geschichte der gleichgeschlechtlichen Paare geprägt ist von Beschreibungen wie abartig, monströs oder unnatürlich, so ist „Homosexualität_en“ weder Rüge noch eine „feel bad“ Ausstellung. Kuratorin Birgit Bosold weist darauf hin:
Homosexualität ist kein komisches Begehren einer Minderheit, sondern die Verhandlung einer Gesellschaft um Begehren von Personen und Geschlechtern. Die Ausstellung bezieht ganz klar die Position des nicht Erledigten, beispielsweise der Frauenfrage, der Geschlechterfrage.
Auch die Forderung, wer will, darf anders bleiben, zeichnet sich klar in der Ausstellung ab.
1. Teil im Deutschen Historischen Museum
Homosexualität in Bereichen der Individualität, Kunst, Alltag, Wissenschaft, Justiz und ihre Verfolgung.
Die Geschichten von Individuen stehen am Anfang. Personen stellen in einer Verknüpfung aus Audio und Visuellem ihre Coming Out Geschichte vor. Entstanden sind sehr persönliche Portraits und für viele war die Aufnahme wie ein erneutes Coming Out. Das ist nicht abstrakt und keine Objektschau, sondern persönlich. Es geht um leibliche Geschichten, um Menschen.
Darauf folgt der Teil „Das zweite Geschlecht“, der mit Referenz auf Simone de Beauvoir nach dem Gedächtnis unserer Kultur und ihrer weiblichen Geschichte fragt. Kultur und Geschichte werden gemeinhin weiß, männlich und heterosexuell dargestellt, denn neben Geschichtsbüchern gibt es auch in Museen und bei Historiker_innen ein Gendertyping – bewusst oder unbewusst. Homosexualität_en bildet im Gegensatz dazu starke Frauen ab; es geht um öffentliche Selbstbehauptung und stellt damit unsere eigenen Sehgewohnheiten in Frage.
Im dritten Abschnitt geht es um homosexuelle Männer und um die „große Leere“ nach dem dritten Reich. Wie wird ihre Geschichte gesammelt, was wird gesammelt und wie wird es dargestellt. Da gleichgeschlechtliche Akte zwischen erwachsenen Männern bis 1969 in der BRD nach §175 strafbar waren (in der ehem. DDR nur bis 1957), war das Bekenntnis nicht so klar und offen, wie es heute möglich ist. Das spiegeln die vorhandenen Zeugnisse wieder, bspw. zum Ende des 19. Jahrhunderts händchenhaltende „Freunde“ und Soldatenpaare. Viele Exponate sind aus der Sammlung Sternweiler, die dennoch insgesamt fast 6.000 Exponate umfasst, oder aus privaten Beständen.
Der Raum „Wildes Wissen“ oder „Ich will Wildes wissen und Wissen ist wild“ zeigt dann von A-Z Schlagwörter und Exponate sowie deren Hintergrund. Das Porzellanservice zum EM Gewinn der deutschen Frauen-Fußballnationalmannschaft 1989 und eine echte „Klappe“ als Symbol für den notwendig gewordenen anonymen, heimlichen Sex, sind ebenso dabei wie „all things pink“ oder der erste „Teddy“ der gleichnamigen Filmpreisverleihung. Vor allem ist dieser Teil eine Hommage an die Aktivist_innen und ihr Engagement, durch das erst viele der gesellschaftlichen Veränderungen möglich geworden sind. Und es zeigt einen kleinen Ausschnitt dessen, was es zu erzählen gäbe, wenn man sich damit beschäftigen würde.
Homosexualität als Machtinstrument und Untersuchungsobjekt
Ein Stockwerk höher begegnet uns der Abschnitt zu Recht und Justiz sowie die allgemeine Diskriminierung von sexueller „Abweichung“ im Alltag durch so genannte Normen und Werte. Die scheinbar kleinste, oftmals aber schlimmste Form, macht den Anfang mit „Schimpf und Schande“: in Audioboxen kann man sich aktuelle Beschimpfungen und Stimmungsmache durch Mitbürger_innen und Amtsinhaber anhören und selbst erleben, wie belastend das sein kann. „becoming an image“ von Heather Cassils nähert sich via Performance Kunst mit Audio, Bildern und Skulptur Themen wie Gewalt, Körper, Formen, Gender.
Der Bereich „Justiz“ macht den hohen Wert, den Homophobie als Instrument für die Mächtigen besitzt, deutlich: der für Männer geltende §175 in Deutschland, die strengen Strafen für gleichgeschlechtlichen Sex in allen französischen Kolonien, nicht jedoch im eigenen Land, oder die Verurteilung von Homosexualität als Wahlkampfmittel. Und es zeigt: Homophobie ist kein Relikt aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft, als Mittel zum Zweck.
Der extra-Raum „Im rosa Winkel“ widmet sich einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte. Gewürdigt werden die Opfer der Verfolgung während der Nazi-Zeit und der Widerstandskämpfer_innen. Beispielhaft stehen die Zeugnisse von Schwulen und Lesben, einzelnen Individuen, die dem Schrecken ein Gesicht geben und auch an die bis heute ausstehende Entschuldigung und Wiedergutmachung erinnern.
Der vorletzte Teil im Deutschen Historischen Museum beschäftigt sich mit der Wissenschaft rund um das Thema Homo-Sexualität und der Matrix aus weiblich und männlich. Kuratorin Bosold erläutert:
Homosexualität ist ein Konstrukt der Moderne als Identität auf sozialer, sexueller und persönlicher Ebene, und wir haben versucht, dieses Konstrukt darzustellen.
Zeugnis legt dafür unter anderem ein Originalbrief mit der ersten Erwähnung des Begriffs und ein aktuelles Kunstwerk zum Thema Gender ab. Der Abschluss bleibt einem belebten Teil mit geheimen Zeichen, Symbolen und Codes der Szene, Bildern und Ausdrücken vorbehalten. Kriminalisierung, Tabuisierung und Marginalisierung alles Nicht-heterosexuellen machten solche Erkennungszeichen notwendig.
2. Teil im Schwulen Museum*
Sexuelles Begehren, Lebenswelten und das Heute
Der zweite Teil der Ausstellung befindet sich im Schwulen Museum* Berlin. Am Anfang steht ein Dancefloor à la Silent Disco mit Ikonen auf der Playlist, von Schlager bis Pop, im homosexuellen Kontext. Der Mythos Berlin im hier und jetzt und wo die Zukuknft liegen mag. Musik als Freiheit und Möglichkeit der Identifikation. Zwei Bewegtbildwerke von Andy Warhol, Arbeiten von Stefan Thiel und Mary Coble bilden die Umgebung. Thiels „Black Facebook“ stellen moderne „Scherenschnitte“ des 21. Jahrhunderts dar, spielen mit dem Hedonismus und sind genauso explizit wie sie es auch gleichzeitig nicht sind. Cobels gibt dagegen mit „Kings“ Einblicke in die Kultur der Drag Kings und wirft die Frage nach der Eindeutigkeit von Geschlecht auf. Ähnlich auch bei der etwas abgegrenzten (aus Jugendschutzgründen) Videoinstallation zur feministischen Pornographie. Sie zeigt sehr explizit, promiskuitive Sexualität ist genauso ein Thema wie bei Männern. Die „passive Frau“ aus Männerpornos ist keineswegs die einzige mögliche Rolle. Gespielt wird mit der Idee „Nichts ist, wie es scheint – und es ist egal“.
Im folgenden Gang ist der bekannte AIDS Schriftzug kaum zu erkennen, denn er ist weiß auf weiß angebracht. Ein Hinweis darauf wie Erfolg unsichtbar machen kann: Obwohl HIV aufgrund seiner Gefahren in der gesellschaftlichen Mitte angekommen ist, ist das eigentliche Thema fast unsichtbar geworden. Im Nebenraum bietet die Videoinstallation „A man’s bath“ Einblicke in die sonst für Frauen unzugängliche Welt der Saunen und Bäder, für sexuelle Kontakte. Auch die Vorbereitungen dazu sind auf Video zu sehen.
Auch verschiedene Facetten von „Unmöglichkeiten“ werden gezeigt – sei es ungewöhnliche Tierfreundschaften zwischen unterschiedlichen Arten oder das Begehren in der Jugend. Auch ein GoGo Podest gehört dazu. Eine weitere Installation von Felix Gonzales Torres beschäftigt sich mit männlicher Macht, ihren Posen und Ausdrucksformen und ihren bisweilen sehr homosexuellen Konnotationen mit „Some faggy gestures“.
Das zweite Interviewprojekt von „Homosexualität_en“ beschäftigt sich mit dem Thema „What’s next“. Aktivist_innen und ausgewählte Personen geben ihre Ideen zu Themen wie Familie, Solidarität und Lebensformen zu Protokoll. Umrahmt wird der Raum von Werken, die Lebenswelten von Paaren und Sexualpartnern zeigen. Der letzte Teil der Ausstellung ist die Videoarbeit von Julian Rosenfeldt „Deep Gold“. Die Geschlechterverwirrungen mit all ihren Emotionen sind hier sehr eindringlich in 20 Minuten eingefangen worden.
Normalität nicht als Preis der Akzeptanz
„Museum soll auch Spaß machen und ist so auch hier in der Gestaltung ein Stück Freiheit für den Besucher“, so Szenograf Detlef Weitz. Die Ausstellung ist anders als das Gewohnte, erfrischend. „Homosexualität_en“ berührt, stellt in Frage und stellt sich vielen Normen quer. Sie stellt und widmet sich Fragen, die viele sonst scheuen oder gar nicht zu stellen wissen. So grundsätzlich und verinnerlicht ist das scheinbar Normale, dass es einem gar nicht auffällt, bis es in Frage gestellt wird. Auch die Diskussion um gleiche Rechte taucht auf. Ganz klar positioniert sich die Ausstellung dabei: Gleiche Rechte müssen sein. Doch muss der/die Einzelne anders bleiben dürfen. Normalität kann nicht der Preis der Akzeptanz sein!
Homosexualität_en ist ein Erlebnis und auf jeden Fall einen Besuch wert!
Fotocredit: © Larissa
Ausstellung Homosexualität_en: noch bis 1. Dezember 2015
Eine Ausstellung des Schwulen Museums* Berlin und des Deutschen Historischen Museums mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder. Sie wurde kuratiert von Dr. Birgit Bosold (im Bild re), Dr. Dorothée Brill (li.), Detlef Weitz (Mitte) unter wissenschaftlicher Mitarbeit von Dr. Sarah Bornhorst, Noemi Molitor und Kristine Schmidt. Fotocredit: © W. Siesing.
Das Schwule Museum* Berlin:
www.schwulesmuseum.de
Lützowstraße 73
10785 Berlin
kostenlose öffentliche Führungen in deutscher Sprache
Jeden 1. Donnerstag und 2. Samstag im Monat:
Donnerstag, 1.10.2015, 5.11.2015 um 18 Uhr
Samstag, 10.10.2015, 14.11.2015 um 16 Uhr
Kostenlose Kurator_innenführungen
18. Oktober mit Birgit Bosold, 22. November mit Dorothée Brill, jeweils 16 Uhr
Eintrittspreise
7,50 € (4 € ermäßigt)
(Ermäßigung auch bei Besuch des Deutschen Historischen Museums)
Öffnungszeiten
Mo, Mi, Fr, So 14 bis 18 Uhr
Do 14 bis 20 Uhr
Sa 14 bis 19 Uhr
Di geschlossen
Jeweils sonntags findet um 18:30h im Schwulen Museum* ein Panel parallel zur Ausstellung statt, ebenfalls mit dem Titel „What’s next“. Als Community Ort für Kommunikation, jenseits von Kommerz und Agenda, soll es hier möglich sein zu Themen zu diskutieren. Wöchentlich gibt es zudem unterschiedliche Gäste.
Deutsches Historisches Museum
https://www.dhm.de/ausstellungen/
Unter den Linden 2
10117 Berlin
Öffnungszeiten
täglich 10–18 Uhr
, 24. Dezember geschlossen
Eintritt
Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei
Tageskarte für alle Ausstellungen: 8 €, ermäßigt* 4 €
(Ermäßigung auch bei Besuch des Schwulen Museums*)
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