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Speichel, Tränen und Geschrei: Blau ist eine warme Farbe
Voyeuristische Studie mit wenig Respekt
Die Verfilmung von Julie Marohs Comicroman über ein Lesbenpaar hat in Cannes gleich drei goldene Palmen bekommen.
Sind überbordendes Kritikerlob und ein Haufen Filmpreise für einen Stoff mit zwei lesbischen Hauptfiguren gut? Ja. Besonders gut zu einer Zeit, in der in einem Land „gegen die Homoehe“ Stimmung gemacht wird. Sind ungewohnt ausführliche und authentische Sexszenen eine sinnvolle Ausweitung geltender Grenzen im Mainstreamkino? Sicher doch. Ist Blau ist eine warme Farbe deshalb „eine überwältigende Liebesgeschichte“ (Spiegel Online) oder gar „ein Meilenstein filmischer Umsetzung von lesbischer Liebe“ (Guardian)? Eher nicht.
Nichts fürs erste Date
So hoch die sich überschlagenden Kritikerchöre in ganz Europa die Erwartungen geschraubt hatten, so tief war auch meine Enttäuschung über die Verfilmung von Julie Marohs subtil herzzerreißendem Comicroman Blau ist eine warme Farbe. Warnung vorweg: Der Film dauert drei Stunden und ist mit seinen gefühlten 30 Minuten hemmungslos nah gefilmtem Sex zwischen makellosen Körpern in sportlich ambitionierten Stellungen auch sonst nichts fürs erste Date. Ob die anderen sich das ansehen möchten, hängt aber nicht nur von ihrer Toleranzschwelle für Körperlichkeit im Kino ab – auf zu vielen Ebenen ist dieser Film entfernt von zarter Gefühlstiefe oder lesbischer Lebenswirklichkeit.
Nacktheit und Speichelfluss
Dass sich die älteren Herren dieser Welt für das neue Werk des chronischen Langfilmers Abdellatif Kechiche begeistern, überrascht nicht sehr. Zumal all die glattrasierte Nacktheit noch durch eine Fülle an Speichelfluss – beim Zungenküssen ebenso wie beim ständigen Kauen und Essen – ergänzt wird. Lasziv öffnet sich Mund um Mund, und der Film schreckt auch vor überdeutlichen Metaphern beim Austernschlürfen nicht zurück. Die einzig gezeigte Lesbenbar ist eine Karikatur voller aggressiv knutschender Klischeefiguren – absichtlich überzeichnet vielleicht, ärgerlich dennoch.
Etwas für Lesben?
Was hat der Film aber für Frauen, für uns Lesben zu bieten? Die Geschichte ist einfach und typisch genug: Eine Schülerin mit Bildungseifer hat zunächst große Schwierigkeiten mit ihrem Coming-Out, findet dann aber ihre wahre Liebe und sexuelle Erfüllung in Person der intellektuellen Mittelschicht-Studentin Emma. Sie bleibt später, nicht unverständlich wegen ihres Jobs als französische Grundschullehrerin, tief im Schrank und wird zudem von Unterlegenheits- und Verlustängsten der Künstlerin Emma gegenüber gequält. Das setzt ihre Beziehung einer harten Belastungsprobe aus …
So weit so interessant. In Comicform funktioniert die Story hervorragend aus der Rückschau der Tagebuchaufzeichnungen der früh verstorbenen Lehrerin, die dort Clémentine heißt. Emmas Bedauern sowie der stummen Hilflosigkeit von Clémentines konservativen Eltern wird dabei angemessener Raum eingeräumt.
Natürlich kann oder muss kein Film jemals dasselbe sein wie ein Buch. Der Vergleich wird immer hinken. Auch dass Romanautorinnen eine Verfilmung ihres Werks verurteilen, wie Maroh es getan hat, ist keine Seltenheit. Trotzdem ist nachvollziehbar, wenn Fans des Comicromans über Kechiches Umsetzung schimpfen. Die Filmversion zieht die Handlung unnötig in die Länge, verzichtet aber auf die Treibkraft der Rückschau. Damit verwirft sie auch die tief bewegende Trauer und das Gefühl endgültig verpasster Chancen, das Marohs Geschichte geprägt hat.
Atemberaubende Heldin
Kechiche lässt seine Heldin Adèle – so viel können wir glaube ich verraten – nicht sterben, sondern hofft am Ende gar auf ein weiteres filmisches chapitre mit ihr, das er sich anfangs noch als Fortsetzung dieses Epos gewünscht hatte. Dass dem Regisseur an weiterer Zusammenarbeit mit der sagenhaft begabten Adèle Exarchopoulos gelegen war, ist nachvollziehbar – sie spielt wirklich atemberaubend gut, und ihr gönnen wir jeden goldenen Extra-Filmpreis gern.
Mangel an Respekt
Ob das aber je passieren wird, ist mehr als fraglich. Denn die junge Hauptdarstellerin hat sich vom Film vollständig distanziert und verlauten lassen, sie wolle mit Kechiche nicht wieder drehen. Auch das überrascht nicht wirklich. Adèle wird hier gnadenlos vorgeführt, in jedem Sinn des Wortes. Mit voyeuristischer Aufdringlichkeit klebt die Kamera beständig an der Neunzehnjährigen. Unablässig drängt sie jede Pore, jede Haarsträhne und jede Rotzspur auf ihrem Gesicht in unser Blickfeld. Keine Sekunde lässt sie Adèle in Ruhe, jede Bewegung, jedes Mienenspiel wird den Zuschauern in bildfüllender Nahaufnahme präsentiert. Das, was von vielen als „intensiv“ und „naturalistisch intim“ gelobt wird, kam Exarchopoulos offenbar übergriffig vor. Verständlich, denn es mangelt an Respekt, sowohl für die Figuren als auch für die Darstellerinnen. Was an Eindrücken von diesem Kinoabend bleibt, sind drei Stunden Tränen, Stöhnen und Geschrei. Auch farblich biedert sich der Film eher an. Anstatt uns mit zarten Farbtupfern zu locken, schreien uns Haustüren, Barbeleuchtung oder Adèles Kleider in maximalem Blau an. Wirklich schön ist das nicht.
Glänzende Darstellerinnen
Das alles mindert nicht die glänzenden Leistungen von Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux. Adèle und ihre copine spielen sich – zumindest im französischen Original, die deutsche Fassung mag abweichen – mutig die Seele aus dem Leib. Nur ihrem kompromisslosen Einsatz ist es zu verdanken, dass der Film überhaupt funktioniert. Und nur ihr authentisches Spiel verhindert tatsächlich, dass die gedehnten Sexszenen (trotz Popoverhauens und anstrengender Posen) pornographisch wirken. Die Dreharbeiten haben den beiden zweifellos einiges abverlangt. Ohne den vielen Sex aber hätten Steven Spielberg und die Cannes-Jury diesen speziellen Liebesfilm ganz sicher nicht mit goldenen Palmen überhäuft, daran ändern alle offiziellen Erklärungen nichts … Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein Regisseur Karriere macht auf Kosten des Talents und der Kraft seiner Darstellerinnen. Schade.
Blau ist eine warme Farbe läuft ab Donnerstag, 19.12.2013, in den deutschen Kinos.
Blau ist eine warme Farbe (La vie d’Adèle, Chapitres 1 & 2)
Frankreich 2013, 179 Minuten
Regie: Abdellatif Kechiche
Darstellerinnen: Adèle Exarchopoulos, Léa Seydoux u. a.
Fotos: Alamode Film
vielen dank für diese differenzierte kritik.
Danke für die ausführliche Kritik – und Widerspruch! Ich habe erst den Film gesehen und dann den Comic gelesen. Den Film finde ich sehr gut. Nah dran, ja, gerade am Anfang die vielen Großaufnahmen beim familiären Essen nicht einfach anzuschauen. Nah dran immer an Adele,. Darüber hinaus am Wachsen und Zerbrechen einer Beziehung, langsam, aber unaufhaltsam. Frau ist sich ganz nah, spürt langsam Unterschiede, driftet auseinander. Die Sexszenen – leidenschaftlich, und das natürlich auch in naher Kameraführung. Die Körper – jung, beweglich, wie die Protagonistinnen. Die Leidenschaft, die Ungehemmtheit – das kann man in jeden lesbischen Körper übersetzen. Ich kann die ganze Aufregung von wegen Pornographie nicht nachvollziehen. Der Comic hat eine eigene, schöne Zeichnung. Ist eine Coming out Geschichte, die berührt. Warum die Heldin aber ausgerechnet an (gebrochenem) Herzen sterben muss, hat sich mir nicht erschlossen.
Danke für diese Gegenperspektive!
Was die Autorin Julie Maroh insbesondere zum Tod der Heldin und dessen autobiographischer Relevanz sowie zum Thema lesbische Authentizität zu sagen hat, lässt sich auf ihrem Blog hier nachlesen: http://www.juliemaroh.com/2013/05/27/le-bleu-dadele/
Für alle, die Französisch nicht so locker parlieren: Es gibt da auch eine englische Version … Eine interessante und sehr respektvolle Stellungnahme, finde ich.
Ich bin richtig froh über die Kritik. Hatte nur in der SZ über den Film gelesen und von Freundinnen ambivalente Kritik, sodass ich den Film als „must“ betrachtet habe und ins Kino bin. Ich stimme fast allem zu, was hier steht und bin erleichtert, dass es eine zum Ausdruck bringt. Die Kamera ist regelrecht aufdringlich und ich hatte das Bedürfnis die Zwei zu schützen. Bei mir im Kino gab es vereinzelte Lacher über die „sich windende Leiber beim Sex“. Das fand ich verletztend, daher vielleicht mein Bedürfnis zu beschützen. Und ich frage mich, warum inszeniert ein Regisseur diese Story auf diese Weise in dieser Zeit (in der in Frankreich ein Kulturkampf um die Rechte von Lesben und Schwulen stattfinden). Will da jemand auf Kosten der voyeuristischen Darstellung lesbischer Sexualität so richtig bekannt werden? (Bei den älteren pseudotoleranten Herren, die sich gerne mal an jungen Körpern beim hemmungslosen Sex vergnügen) Ich bin skeptisch, ob dieser Film wirklich der lesbischen „Sache“ (oder zumindest Sichtbarkeit) dient.
Danke. Die Redaktion der phenomenelle möchte diesen Film auch definitiv nicht in ihre Reihe der must-sees lesbischer Filmkunst einordnen 🙂
Lange habe ich überlegt, wie ich mein Gefühl diesem Film gegenüber ausdrücken kann.
Mich hat der Film, die beiden Frauen, niemand darin wirklich berührt. Ich fühlte mich fremd, fragte mich die ganze Zeit, warum dieser Film gedreht wurde, was eigentlich erzählt werden soll. Denn all die Zwischentöne, die Entwicklung der Beziehung, die in (Fremd)beschreibungen angeblich vermittelt werden, habe ich nicht empfinden können. Dafür hat sicher der Regissuer nicht die Zeit genommen, die er für die (unleidlichen) Sexszenen hatte. Unnötig waren die für den Fortgang des Films sowieso. Ich finde auch, weder ein MUST SEE noch etwas für ein lesbisches erstes oder zweites Date.
Mir hat der Film gefallen. Er hat alle lesbischen Facetten angespochen wie Coming Out, Homophobie in der Schule, Szene, etc.
Im Kino war Interesse, Offenheit.
Die Darstellerinnen so nah zu zeigen schaffte eine starke Emotionalität filmisch betrachtet. Fand ich passend, wenn auch nicht nur angenehm, was aber zum Drehbuch passte.