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Szenische Lesung: „Die Sexualität ist halt nicht so mein Gebiet“
Die Lebenswirklichkeit von Schwulen und Lesben nach 1945
„Bedrückend, leidenschaftlich, verrückt“, so leitet Irene Franken vom Kölner Frauengeschichtsverein die szenische Lesung im Rahmen der Hirschfeld-Tage 2014 ein. Etwa 35 Zuhörerinnen und Zuhörer, in fast ausgeglichenem Verhältnis, haben sich im NS-Dokumentationszentrum eingefunden, um einzusteigen in die Gefühlswelt von zwei schwulen Männern und einer lesbischen Frau. Sie wollen erfahren, „wie sie gelebt und sich eingerichtet haben; welche Lebensstrategien sie entwickelten“ in den Jahren nach 1945.
Die Bedrohung ist allgegenwärtig
Die Männer standen bis 1969 unter der ständigen Bedrohung des § 175. Kurzzeitig wurde sogar überlegt, ihn auf Frauen auszuweiten, referiert Marcus Velke vom Centrum Schwule Geschichte (CSG). Doch deren Sexualität wird gar nicht ernst genommen. Männern falle es viel schwerer, ihren Trieb zu unterdrücken. Die Frauen kämpfen um ein selbstständiges Leben. Bis zum Anfang der 70er reicht die Zeitreise, in der die Protagonisten, zwei Schwule und eine Lesbe, selbst zu Wort kommen. Bewegend und tragisch vorgetragen von Lindenstraßen-Alumni Klaus Nierhoff, Stunksitzungspräsidentin Biggi Wanninger und Schauspieler Christian Schüler. Kaum jemand im Publikum hatte wohl erwartet, dass es auch amüsant und sehr humorvoll werden wird. Besonders Wanninger als kölsches Original Gertraut Müller sahnt einen Lacher nach dem anderen ab.
Abwechselnd werden die Geschichten der drei Personen lebendig. Die Texte haben Irene Franken und Marcus Velke zusammengestellt. Die beiden Schwulen bleiben namenlos. Sie stehen exemplarisch für mehrere Zeitzeugen. Ihre autobiografischen Texte speisen sich aus 16 Interviews, die aus dem Archiv des CSG stammen. Die ARCUS-Stiftung sucht im Rahmen eines Projektes weitere Zeitzeug_innen.
Unterschiedliche schwule Lebenswelten
Der eine, Jahrgang 1913, macht seine ersten sexuellen Erfahrungen in der Weimarer Republik – ohne beim Namen zu nennen, was er mit anderen Jungs tut:
Ich wusste nicht, was schwul ist. Erst in den 60er Jahren habe ich kapiert, was ich bin.
Als gläubiger Katholik beichtet er regelmäßig, will von seiner Sünde loskommen. Eine Ehe scheint ihm schließlich die letzte Rettung. In Klappen, auf Trümmergrundstücken und verlassenen Friedhöfen sucht er weiter das kurze schwule Glück. Nierhoff verleiht ihm mit seinem sonoren tiefen Bass eine kraftvolle Stimme.
Schüler liest den jüngeren Schwulen, geboren 1940, sanfter. Für ihn ist vor allem die Mutter ein Problem. Dem siebenjährigen bindet sie die Hände mit Mull ans Bett, noch den erwachsenen Sohn schlägt sie. Erst seine Chefin bringt sie zur Vernunft. Während der Ältere den Fall des § 175 als Befreiung erlebt, die mit rauschhaften Festen gefeiert wird, beeindruckt es den Jüngeren nicht: „Viele haben das gar nicht zur Kenntnis genommen.“ Zu tief sitzen das Gefühl der Minderwertigkeit, als dass sie sich frei fühlen könnten.
Lesbische Überlebensstrategie
Das Highlight – nicht nur aus lesbischer Sicht – des Abends ist Gertraut Müller, kongenial vorgetragen von Biggi Wanninger. Ein ums andere Mal setzt sie sich mit einer naiven Aggression durch und erkämpft sich so ein selbstständiges Leben.
Mit 16 beginnt sie eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester. In den Schwesternheimen entdeckt sie die Sexualität. Weil sie nie etwas anbrennen lässt, muss sie mehrfach die Ausbildungsstätte wechseln. Acht Tage vor der Abschlussprüfung geschieht es erneut. Die Geliebte ist eine Tochter aus finanziell gut gestelltem Haus. Die Familie spendet ein Kirchenfenster. Der Chefarzt schiebt Gertraut die Schuld in die Schuhe. Ab sofort habe sie Hausverbot. Die hat zwar Angst, will aber unbedingt ihre Ausbildung beenden. „Dazu haben Sie kein Recht“, platzt es aus ihr heraus. Der Blöff wirkt, sie kann ihre Prüfung ablegen und muss erst danach das Kinderheim verlassen. „Ja, wat anderes hab‘ ich doch gar nicht vor“, behält sie das letzte Wort.
Noch viel ließe sich erzählen von den wunderbaren, amüsanten Lebenserinnerungen der Gertraut Müller, von ihren Beschreibungen der verschiedenen Szenetreffs. Das mehr schwule Café Wüsten – „die Art des Umgangs war so ordinär“. Der „Schicki-Micki-Treff“ George Sand – „mit denen hatte ich nix zu tun“. Von ihrem Ehemann, den sie zwar mag und mit dem sie das Waisen-Schicksal teilt, der ihr aber körperlich fremd bleibt. Sie glaubt:
Die Sexualität ist halt nicht so mein Gebiet. Ich hätte dabei stricken können.
Davon wie sie eine Partnerschaftsanzeige aufgibt und sich daraus die Gruppe homosexuelle Aktion Köln entwickelt, aus der eine Art Partnerschaftsvermittlung wird. Nur die Initiatorin bleibt allein: „Alle hatten jemand, nur ich nicht.“ Wanninger erweckt Müller stark und präsent zum Leben. Am Ende bringt es eine Zuhörerin, die Müller selbst kannte, auf den Punkt:
Ich dachte, Gertraut ist leibhaftig im Raum.
Zu schnell zu Ende – Fortsetzung erwünscht
Auch das Publikum hätte wohl gern noch länger gelauscht. Viel zu schnell geht der kurzweilige Abend zu Ende. Schon jetzt ein Juwel während der Hirschfeld-Tage 2014. Alle, die es verpasst haben, können den Abend noch einmal am 30. April in Aachen genießen. Die Veranstalter sammeln außerdem Spenden, um weitere Lesungen zu organisieren und vielleicht eine CD zu produzieren.
Liebe Sabine Arnolds, ich war der Co-Moderator von Irene Franken, ich wollte richtigstellen, dass die 16 Interviews, aus denen die Herren zusammengestellt wurden, aus dem Archiv des CSG stammen. Ansonsten vielen Dank für diesen schönen Artikel!
Lieber Markus Velke, danke für den Hinweis. Das wurde während der Veranstaltung nicht so deutlich. Ist aber jetzt geändert 🙂 Danke euch für eine tolle Veranstaltung.